Da sind wir stolz wie Bolle - ein Bericht über das Phonocentrum in der LVZ


Donnerstag, 5. November 2020 Leipzig


Daniel Lässig - Der Jäger der verlorenen Musikschätze

„Auf einen Kaffee mit ...“: In loser Folge trifft die LVZ Menschen in Leipzig,
die etwas zu sagen haben. Heute: Daniel Lässig, Chef des Phonocentrums im Peterssteinweg

Von Guido Schäfer

 

Daniel Lässig, 48, ist zweifacher Vater, seine beiden Mädchen sind 14 und 16. Sein Baby ist gerade 20 geworden, heißt Phonocentrum, ist kerngesund und seit 2000 ein international frequentiertes Aushängeschild im Leipziger Peterssteinweg. Die heiligen Hallen der ehemaligen Drogerie Linke bieten Raum für mehr als 25 000 klassische Tonträger, atmen Musik, haben viele prominente Kunden und Kundinnen kommen, gehen und wiederkommen gesehen. Menschen vom Fach und mit ausgesuchtem Geschmack. Kurt Masur schickte seine Sekretärin, um beim Jäger der verlorenen Musik-Schätze fündig zu werden. Pianist Günter Kootz stöberte wiederholt hier, auch Dirigent Max Pommer, Tenor Jochen Kowalski und Schauspieler Axel Prahl machten ihre Aufwartung.

Oboenvirtuose bietet500 Platten an

Eines Tages stand Burkhard Glaetzner, der berühmteste Oboenvirtuose der DDR, in der Tür. Glaetzner wollte nichts kaufen, sondern seine in Jahrzehnten gewachsene heimische Schallplattensammlung um 500 Platten verkleinern. Auf würdige Art und Weise, gegen den einen oder anderen Euro. „Ich war dann daheim bei ihm“, erzählt der Phonocentrum-Chef mit leuchtenden Augen. Man wurde handelseinig. Lässig kauft nicht jede Rarität. „Der Zustand ist extrem wichtig, wir kaufen nur Erste- Hand-Sammlungen und zahlen faire Preise.“

Unlängst hielt Lässig eine Art Blaue Mauritius der klassischen Musik in Händen. Ein Stammkunde aus Japan, der dreimal im Jahr aus Kyoto kommend in Schkeuditz einschwebt, zahlte 800 Euro für eine französische Cello-Sonate. „Zwei Musikstücke, fünfzehn Minuten – und extrem selten.“

Stichwort Mehrwert: In der Musikszene ist es wie beim Fußball. Eine Unterschrift von Netzer, Müller, Maier, Beckenbauer wertet jede Devotionalie auf. Lässig fischt eine Schallplatten-Hülle mit der Signatur des italienischen Star-Dirigenten Arturo Toscanini aus der Tiefe der einstigen Drogerie-Fächer. „So etwas ist auch gesucht“, sagt Lässig und bittet in ein nicht einsehbares Hinterzimmer. „Meine Schatzkammer.“ Inmitten des Raumes thront ein uralter, 500 Kilogramm schwerer Tresor der 1858 gegründeten Chemnitzer Firma F. E. Baum, Cassenfabrik. Im Tresor wurden früher dieTageseinnahmen der Linkes einsortiert. Heute lagert dort besonders heiße Ware. Beispielweise handschriftliche Notizen des ebenso legendären wie exzentrischen Herbert Kegel. Der Mann leitete von 1949 bis 1978 den Rundfunkchor und von 1958 bis 1978 das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig. Kegel war, sagen wir, leicht erregbar. So hat der Chronist des Chortagebuches für die Nachwelt erhalten, was sich im März 1976 während eines Schallplatten- Aufnahmetermins für Schönbergs „Moses und Aron“ zugetragen hat:„18 Uhr, Aufnahme, 4. Scene ... Es

kommt zum Eklat ... Kegel bewirft grundlos einen 1. Geiger mit dem Taktstock ... Dieser wirft zurück und verlangt eine Aussprache, die aber durch Kegels Weigerung, sich zu entschuldigen, platzt ... Sämtliche1. Geigen verlassen ihren Platz ... Man arbeitet weiter, wenngleich auch die Atmosphäre keine gute war.“ Apropos Arbeitsatmosphäre: Linkes Tresor überstand zwei nächtliche Knack-Versuche schadlos. Ein Einbrecher war darüber so erbost, dass er sein Geschäft an Ort und Stelle verrichtete. Lässig hat während seines Design-Studiums in Plattenläden gejobbt, machte seine Leidenschaft anno 2000 zur Profession. „Reich wird man nicht. Aber glücklich.“ Der Mann ist in der Szene der Classic-Fans ein Alleinstellungsmerkmal auf zwei Beinen. Schallplatten, eine glänzend sortierte DDR-Vinyl-Abteilung, Schellackplatten, Richard Tauber, Enrico Caruso, die Comedian Harmonists, Raritäten des letzten Jahrhunderts. Lässigs Auswahl ist unerreicht, sein weltweites Netz und seine Liebe zum Detail erfüllen jeden noch so ausgefallenen Wunsch. Wie zum Beweis erscheint ein Stammkunde, fragt nach einer Beethoven-Sonate mit Karl Suske, dem Konzertmeister des Gewandhausorchesters.

Der persönliche Kontaktsteht über allem

Lässig schließt die Tür ab (das macht er immer, wenn er zum Jäger des verlorenen Schatzes wird), lässt den Blick über sein Reich schweifen, fingert irgendwann 

zwischen betagten Plattenhüllen und wird fündig. „Beethoven, Suske, haben wir!“

Ebay & Co. sind fürs Phonocen-trum kein Thema. „Wir sind und bleiben ein Ladengeschäft, wollen und brauchen den persönlichen Kontakt zu unseren Kunden. Die allermeisten sind Stammkunden.“ Die sind Gold wert, werden gehegt und gepflegt, sagt Lässig, nachdem er einen davon glücklich gemacht hat.

Wie erklärt sich der Experte die Renaissance der Schallplatte in Zeiten von Streamingdiensten? „Jede Bewegung hat eine Gegenbewegung, die Schallplatte ist das Kontra zur Digitalisierung. Eine Platte kann man anfassen, riechen, spüren, entstauben – und wie ein Buch ins Regal einsortieren. Das geht bei runtergeladenen Aufnahmen nicht.“ Überdies sei der Genuss aus der alten und im vorliegenden Fall guten Zeit unübertroffen. Lässigs Gleichung geht so: Vinyl- Platte + Top-Plattenspieler = einmaliger Genuss, einmalige Qualität. „Diese Komponenten bringen das größte Klangspektrum, die größte Dynamik und den größten Schwingungsgrad. Das kann keine Kassette, keine CD, kein Streamingdienst.“ Es sei wie bei einem alten Röhrenradio mit Holzgehäuse, „da brummt dir der Bass entgegen und geht eben nicht rechts rein und links raus“.

Und was hört der Jäger der verlorenen Musik-Schätze abends am imaginären Lagerfeuer? Das Violinenkonzert D-Dur op. 35 des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski.

Noch nie gehört? Einfach mal hingehen, zu Herrn Lässig in den Peterssteinweg.